Interview mit Sherzad und Servan aus dem Nordirak

Vorbemerkung:
 Dieses Interview hat eine Vorbereitungszeit von gut 4 Monaten gebraucht. Ich habe Sherzad (13) das erste Mal im November 2015 zusammen mit seinen Pflegeeltern Phillip, den ich im letzten Interview porträtiert habe, und seiner Frau Brigitte, kennengelernt und war überrascht, wie offen, freundlich und völlig vorbehaltlos dieser kleine Kerl schon durch sein „neues“ Leben, in einem für ihn noch völlig fremden Land, geht.
 Und trotzdem, bei genauerem hinhören und -schauen bemerkt man recht schnell das Sherzad vieles hinter sich hat an dass er nicht mehr erinnert werden möchte. Also keine günstigen Voraussetzungen für ein Gespräch in dem es um Flucht gehen soll. Inzwischen ist Sherzad komplett angekommen, geht aufs Gymnasium, spricht hervorragend Deutsch und ist der Star im einheimischen Fußballteam. Also vielleicht ein guter Moment um sich langsam wieder an das Thema heranzutasten.

Ich treffe Sherzad an einem Sonntagmorgen, zusammen mit seinen Pflegeltern, bei einem entspannten Frühstück. Im Vorfeld ist mit diesen abgesprochen dass sie sofort einschreiten wenn es für Sherzad zu viel wird.
 Sherzad hat seinen großen Bruder Servan (19) mitgebracht, der ebenfalls hervorragend deutsch spricht. Wir beschließen spontan ein „Geschwisterinterview“ daraus zu machen. Das daraus dann eine Geschichte wird die einfach tief bewegt, war so nicht geplant, macht dieses Gespräch aber im Nachhinein umso wichtiger und notwendiger.

 

Sherzad und Servan, schön dass ihr euch die Zeit genommen habt und über eure Fluchtgeschichte erzählen wollt. Zunächst interessiert mich natürlich, auf welchem Weg ihr hierher gekommen seid.



 

Servan: Wir sind mit dem Bus bis an die türkische Grenze gefahren. Das ist im Irak kein großes Problem und dauert ungefähr 2 Tage. Dort mussten wir einen Tag warten, dann sind wir von einem großen Auto (Anmerkung: Servan meint damit einen LKW) abgeholt und auf die Ladefläche gebracht worden. So sind wir dann nach Deutschland gebracht worden. Das hat dann nochmal 8-10 Tage gedauert.

 

Also eine klassische Flucht, wie sie so oft stattfindet, über einen sogenannten Schlepper?
 (Servan versteht das Wort Schlepper nicht, ahnt aber, was ich meine.)



 

Servan: Wir mussten viel Geld dafür bezahlen um dort mitzufahren.

 

Wie viele Menschen waren da auf dem Wagen, wie viele Frauen und Kinder und was habt ihr zu essen bekommen?



 

Servan: Wir waren ungefähr 25 Leute, alles Iraker. Es gab genug Wasser und Brot zum essen. Aber nur Brot, nichts anderes.

 

Seid ihr, also du und dein Bruder, zusammen geflüchtet?

 Beide schütteln den Kopf.



 

Servan: Mein Bruder ist nach mir geflüchtet, zusammen mit einem Onkel. Er ist der Jüngste und wir wollten ihn schnell in Sicherheit bringen. Ich war schon vorher hier...

 

Dann bringt mich das ja fast schon zu meiner nächsten Frage: Was ist passiert, dass man als Kind, als Jugendlicher, der dort Freunde und Familie hat, der studieren möchte, seine Heimat verlässt und dabei sogar riskiert zu sterben? Wovor wolltet ihr euch in Sicherheit bringen?

Beide schweigen lange. Dann antwortet wieder Servan:



 

Wir sind Jesiden aus Shingal, friedliche Leute. Irgendwann ist dann ISIS in unsere Stadt einmarschiert und hat uns Jesiden die Wahl gelassen. Entweder wir wechseln sofort oder....

 (Hinweis: Servan benutzte hier den Begriff „wechseln“, gemeint ist damit „konvertieren“, was im Folgenden auch genutzt wird.)

Hier unterbricht er seine Schilderung sieht mich an und führt dann seine flache Hand zum Hals und macht eine Bewegung als ob er ein Messer am Hals hat.

 

Wir hatten einfach nur panische Angst vor ISIS!

Und wenn du konvertierst, bist du als Jeside deren Eigentum sie können mit dir machen was sie wollen.

 

Er unterbricht seine Schilderung erneut, seine Mimik zeigt dass er immer noch voller Panik ist.

 

Im Nachbardorf (Hinweis: Er meint einen Stadtteil von Shingal) haben sie 3.500 Menschen konvertiert. Das waren die Menschen die aus Angst vor... (er legt erneut die Hand an den Hals) konvertiert sind. Wenn du das tust betrachten sie dich als ihr Eigentum! Sie machen mit dir was sie wollen!

 

Ist noch Familie von euch dort?



 

Servan: Ja. Meine Mutter, 4 Schwestern und 2 Brüder. Mein Unser Vater lebt nicht mehr, er hatte vor kurzem einen Herzinfarkt. Jetzt sind meine kleinen Brüder und Schwestern mit unserer Mutter ganz allein dort.

 

Denkt ihr oft an eure Familie?


Beide nicken.


Könnt ihr euch vorstellen irgendwann wieder zurück zu gehen?



 

Servan: Natürlich wäre es schön irgendwann wieder in der Heimat leben zu können. Aber so lange ISIS noch da ist haben wir Jesiden gar keine Chance auf ein friedliches Leben.
 Ich hoffe irgendwann meine Familie hierher holen zu dürfen.

 

Wo lebst du jetzt und wie ist dein aktueller Aufenthaltsstatus?

 

Servan: Ich lebe in Bielefeld in einer Wohnung mit 2 anderen Irakern. Wir verstehen uns gut. Im Moment habe ich eine Duldung. 



 

Und was wollt ihr hier in Deutschland später machen?



 

Servan: Ich möchte hier irgendwann studieren. Aber dafür muss ich noch besser deutsch lernen.


Sherzad: Ich gehe aufs Gymnasium und möchte später etwas mit Sprachen machen. Übersetzer oder etwas ähnliches.

 

Sherzad, ich habe gelesen dass du in deiner neuen Fußballmannschaft reihenweise Tore schießt. Wie wäre es mit Fußballprofi?



Sherzad lacht nur.

 

Kannst du mir vielleicht auch noch erklären wie es für dich war, tagelang hinten auf einem LKW zu sitzen? Nur mit Wasser und Brot und nicht zu wissen wo es hingeht? Und das mit gerade einmal 12 Jahren?

Sherzad antwortet mir nicht, stattdessen springt seine Pflegemutter Brigitte ein und bittet mich nicht weiter zu bohren.
 Das respektiere ich natürlich. Aber eine Frage habe ich zum Schluss dann doch noch.

Stimmt es dass du dir vorgenommen hast in nächster Zeit deinen Pflegevater Phillip im Brettspiel Mühle zu schlagen? Phillip gilt ja als fast unschlagbar.

 Sherzad (lacht wieder): Ja, irgendwann werde ich ihn besiegen.

 

Und wie zum Beweis dass er es ernst meint packt Phillip das Brett aus und beide beginnen ein Spiel. Und dann ist Sherzad wieder ein ganz normaler 13-jähriger Junge dem man nicht anmerkt was er alles in seinem kurzen Leben schon erlebt hat.

 

Hinweis in eigener Sache: Servan hat im Laufe des Gesprächs einige sehr detaillierte Dinge geschildert die der IS in seiner Stadt getan hat, Menschen angetan hat die er kannte, Freunden und Verwandten. Ich habe mich nach langem Überlegen entschieden diese Dinge hier nicht zu benennen und diesen Part weggelassen. Weil ich es schon beim Zuhören kaum ertragen habe. Und glaube dass es für einen neutralen Leser ebenso schwer erträglich wäre.

 

Weiterhin möchte ich nicht unterschlagen dass unser Gespräch für Servan ein Kampf war. Seine Gestik, seine Mimik, Schweißausbrüche, all das hat deutlich gezeigt wie schwer es für ihn war mir all diese Dinge zu erzählen.
 Um so größer ist mein Dank an dieser Stelle an Phillip und Brigitte und natürlich an Sherzad und Servan, dass sie dieses Interview trotz aller Widrigkeiten ermöglicht haben!

 Danke schön!

 

Das Interview führte Michael Boyny





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Kommentare: 1
  • #1

    Jan (Donnerstag, 17 März 2016 08:57)

    Vielen Dank für diesen bewegenden Einblick in das Leben. Schwer zu begreifen damit unzugehen, dort noch Familie zu haben, die nicht in Sicherheit ist